Pilgern – Eine Massenbewegung im Mittelalter
Seit dem 6. Jahrhundert sind in Europa Wallfahrten zu verzeichnen, die sich im Laufe des Mittelalters zu einem regelrechten Massenphänomen entwickelten. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert jeweils ein Viertel bis ein Fünftel der europäischen Bevölkerung auf Pilgerfahrt unterwegs war. Pilgern bedeutete in der damaligen Zeit für die meisten allerdings eine Fernreise mit unbestimmter Wiederkehr. Das wohl wichtigste Motiv einer Pilgerschaft war die religiös motivierte Reise hin zu einem Wallfahrtsort, in der Regel verbunden mit einer Ablasserwartung. Weitere Motive waren unter anderem auch die Pilgerschaft aufgrund eines Gelübdes (Krankheiten und Seuchen spielten dabei eine Rolle), einer Pilgerschaft per Gerichtsverfügung als Strafe bzw. Buße oder auch einer Pilgerschaft durch testamentarische Verfügung (Ablass für den Verstorbenen oder den Pilger erwerben).[1]
Die Funktion des Pilgerzeichens
Bereits seit dem 12. Jahrhundert wurden an zahlreichen europäischen Wallfahrtskirchen Pilgerzeichen verkauft. In der Regel waren es plakettenartige Metallgüsse, die in Serie gefertigt wurden und damit für die Pilger preislich erschwinglich waren. Zumeist wurden sie an Hut oder Mantel genäht. Ihre Funktionen waren durchaus vielfältig: So galten sie für den wandernden Pilger als Rechtszeichen, zurückgekehrt im Heimatort als Erinnerungsobjekt, Statussymbol und Devotionalie. Am Pilgerort selbst waren sie ein einträglicher Verkaufsartikel. Die Pilgerzeichen waren damit das erste massenhaft verbreitete Bildmedium und „bis zum 15. Jahrhundert die einzige Form privaten Bildbesitzes für breite Kreise der Bevölkerung.“[2]
Pilgerzeichen auf Glocken
Seit dem Mittelalter finden sich diese Pilgerzeichen allerdings nicht nur als Plaketten für den Pilger wieder, sondern können auch auf Glocken identifiziert werden. Die Glockengießer nutzten die bildhaften Darstellungen zumeist als Zierelement sowie zur Unterstreichung einer apotropäischen bzw. auch heilbringenden Wirkung des Glockenklanges. Welche außergewöhnliche Bedeutung der Klang einer Glocke im Mittelalter hatte, können wir uns heute kaum noch vorstellen. Neben der Inschrift und bildlichen Zier stellten Pilgerzeichen das wichtigste Instrument für die Übermittlung sowohl der akustischen als auch der visuellen Inhalte dar. Durch ihre Darstellung der biblischen Gestalten, Heiligenfiguren und Heiligtümer besaßen sie sowohl religiösen als auch memorialen Charakter.[3]
Pilgerzeichen sind für die Wallfahrtsforschung sowie für die Forschung von Reisebewegungen im Mittelalter von großer Bedeutung. Die meisten plakettenartigen Metallgüsse von Pilgerzeichen sind aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit oftmals nicht mehr vorhanden, so dass häufiger die Pilgerzeichen auf Glocken und anderen langlebigen Objekten existieren. Glocken mit ihrem zumeist vorhandenen Gussdatum dienen dabei zur weiteren zeitlichen Einordnung einer Wallfahrt, was archäologische Pilgerzeichenfunde häufig nicht zulassen, da die kleinen Metallgüsse als Einzelobjekt keine nähere Datierung zulassen. Zudem zeigen Pilgerzeichen auf Glocken die Verbreitung eines Pilgerortes und die Reisetätigkeit der Menschen im Mittelalter an, die weder kartografisch noch durch schriftliche Quellen erfasst ist.
Neustart der Pilgerzeichendatenbank
Den Grundstock der heutigen Online-Pilgerzeichendatenbank bildet die Arbeit des Nestors der europäischen Pilgerzeichenforschung Kurt Köster (1912–1986).[4] Köster, der spätere Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main, legte den Grundstein seiner Arbeit mit der Verzeichnung von Pilgerzeichen aus den Karteikarten, die auf dem Hamburger Glockenfriedhof vor der Glockenvernichtung angelegt wurden, heute bekannt als Deutsches Glockenarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Von den insgesamt etwa 6.600 Pilgerzeichennachweisen aus zahlreichen europäischen Ländern, die Köster zusammengetragen hat, ist etwa ein Drittel davon auf Glocken aufgegossen, die Hälfte des Gesamtvolumens ist als Originalzeichen überliefert, die übrigen sind auf Gemälden oder Ähnlichem abgebildet oder in Textquellen bezeugt. Diese Materialsammlung ist als Zettelkastenkartei im Deutschen Glockenarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg archiviert. Viele Jahre fristete die Pilgerzeichenkartei Kösters allerdings ein nahezu unbemerktes Dasein.[5]
Eine Änderung trat erst im Jahre 1999 ein, als es zu ersten Kontakten zwischen dem mit dem Projekt vertrauten Volkskundler Wolfgang Brückner, dem 2014 verstorbenen Campanologen Jörg Poettgen[6] (Rheinisches Institut für Glockenkunde / Deutsches Glockenmuseum), dem Archäologen Andreas Haasis-Berner und dem Kirchenhistoriker Hartmut Kühne kam und eine Veröffentlichung sowie allgemeine Nutzbarkeit diskutiert wurde. Im Mai 2002 ging ein erstes Testprojekt online. Trotz mangelnder Forschungsgelder konnte die Datenbank langsam aufgebaut und der Erfassungsraum auf ganz Europa ausgedehnt werden. Wegen technischer Probleme konnte an der Datenbank seit dem Jahr 2008 leider nicht mehr gearbeitet werden. [7]
Dank neuer Kooperationspartner und im Zuge der großen Doppelausstellung Pilgerspuren. Orte • Wege • Zeichen im Jahr 2020/21 in den Museen von Lüneburg[8] und Stade gelang nun eine Überarbeitung der Datenbank und Webseite und damit der Neustart der Pilgerzeichendatenbank. Seit 2021 hat sie an der Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (VZG) eine neue Heimat gefunden. An der Datenbank wird nun wieder aktiv gearbeitet und europäische Pilgerzeichen aus der Zeit vom 11. bis zum beginnenden 16. Jahrhundert erfasst.
Für die Campanologie bedeutet dies einen ungeheuren Glücksfall. Können doch so zum einen Pilgerzeichen auf Glocken weiterhin mittels der Datenbank identifiziert werden und zum anderen neue Pilgerzeichenfunde auf Glocken in die Datenbank eingearbeitet werden, um die weitere wissenschaftliche Arbeit der Pilgerzeichen- und Wallfahrtsforschung zu fördern.
Die Pilgerzeichendatenbank ist zu Erreichen unter www.pilgerzeichen.de
Der Vollständigkeit halber darf die Erwähnung einer weiteren Pilgerzeichendatenbank nicht fehlen. Der kunstgeschichtliche Lehrstuhl an der Faculteit der Letteren der Radboud Unviversiteit Nijmwegen unterhält ebenfalls eine Pilgerzeichendatenbank, die sich vor allem auf Westeuropa konzentriert. Die Datenbank ist zu Erreichen unter www.kunera.nl
[1] vgl. Oefelein, Rainer und Oefelein, Cornelia: Pilgerspuren auf mittelalterlichen Glocken in Brandenburg. Berlon 2012, S. 9ff.
[2] zit. n. Lambacher, Lothar: Stand und Perspektiven der europäischen Pilgerzeichenforschung. In: Religiosität in Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. von Matthias Untermann. Paderborn 2011, S. 63.
[3] vgl. Majewski, Marcin: Pilgerzeichen auf Glocken in hinterpommerschen Kirchen. In: Wallfahrer aus dem Osten. Mittelalterliche Pilgerzeichen zwischen Ostsee, Donau und Seine. Beiträge der Tagung Perspektiven der europäischen Pilgerzeichenforschung 21. bis 24. April 2010 in Prag. Hrsg. von Hartmut Kühne, Lothar Lambacher und Jan Hrdina. Frankfurt am Main 2013, S. 51-68.
[4] vgl. Bibliographie der glockenkundlichen Veröffentlichungen von Kurt Köster (+ 1986). Zusammengestellt von Jörg Poettgen. In: Jahrbuch für Glockenkunde, Band 1/2 1989/90, S. 139-141.
[5] vgl. https://pilgerzeichen.de/index.php?id=213 abgerufen am 12.05.2021.
[6] vgl. Varia Campanologiae Studia Cyclica. 25 Jahre Deutsches Glockenmuseum auf Burg Greifenstein. Zugleich eine Festschrift für Jörg Poettgen zur Vollendung des 70. Lebensjahres. Hrsg. von Konrad Bund und Rüdiger Pfeiffer-Rupp mit Unterstützung durch Jan Hendrik Stens. Reihe: Schriften aus dem Deutschen Glockenmuseum 6. Greifenstein 2009.
[7] vgl. https://pilgerzeichen.de/index.php?id=213 abgerufen am 12.05.2021.
[8] Für den Ausstellungsteil in Lüneburg konnte aus der Kirche des Wohnortes des Verfassers ein wertvoller Abendmahlskelch aus dem Jahre 1598 mit Querverweisen auf die Wallfahrt nach Santiago de Compostela als Leihgabe zur Verfügung gestellt werden.