Vox Patris – Eine Riesenglocke für Brasilien

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Es war im Jahr 2016 als erstmalig in der deutschen Glockenszene Gerüchte von einer riesigen Glocke zu hören waren, an deren Herstellung man in Polen arbeiten würde. In deutschen Medien waren zu diesem Zeitpunkt allerdings keine nennenswerten Berichte darüber zu finden, die verlässlich Auskunft gaben. Schließlich berichtete die Ostsee-Zeitung aus Mecklenburg-Vorpommern erstmalig mit einem bebilderten Artikel über die in der Herstellung befindliche Glocke.[1] Darin hieß es, daß man in Krakau an der größten freischwingenden Glocke der Welt arbeite mit einem Gewicht von 50 Tonnen! Das abgedruckte Foto einer gigantischen Glockenform in einer Gußgrube stehend ließ an den Dimensionen des Instrumentes kein Zweifel aufkommen. Die im Artikel benannten Hinweise zur beteiligten Glockengießerei, Name der zu gießenden Glocke bzw. auch zum Auftraggeber ließen nun genauere Recherchen zu. Um ein vollständiges Bild über dieses Projekt zu erlangen recherchierte der Verfasser auf polnischen und brasilianischen Internetseiten und knüpfte mit Hilfe von Herrn Dr. Gerard Guzlak von der Universität im polnischen Bydgoszcz (dt. Bromberg) Kontakte zur ausführenden Glockengießerei Jan Felczynski aus Przemyśl. Folgendes Bild konnte bisher über das Projekt gewonnen werden.

 

Im Jahre 2012 begann in der ca. 105.000 Einwohner zählenden Stadt Trindade im mittleren Westen Brasiliens gelegen der Bau einer mächtigen Kirche. Seit dem 19. Jahrhundert ist es bereits der dritte Kirchenneubau in der Stadt. Die Stadt Trindade erlangte in Brasilien nationale Bekanntheit durch den 18 km langen Pilgerweg O camino da fé (dt. Weg des Glaubens) ausgehend von Goiânia, der Hauptstadt des Bundesstaates Goiás. Dieser Pilgerweg führt mittlerweile allein in den Sommermonaten bis zu drei Millionen Pilger in die Stadt. Die derzeitige Basilika minor Basílica do Divino Pai Eterno (dt. Basilika des ewigen göttlichen Vaters) aus dem Jahre 1943 ist diesem Ansturm nicht mehr gewachsen, weshalb seit dem Jahr 2012 an einem Neubau in erheblich größeren Ausmaßen gearbeitet wird. Der Neubau sieht unter anderem einen etwa 100 Meter hohen Campanile mit einem vielstimmigen Geläut bzw. Glockenspiel vor. Mit der Herstellung einer mächtigen Bordunglocke mit dem Namen Vox Patris (dt. Stimme des Herrn), die in 30 Meter Höhe hängen wird sowie weiteren 63 zu gießenden Glocken wurde die polnische Glockengießerei Jan Felczynski aus Przemyśl beauftragt. Die Planungen für das Glockenprojekt begannen im Jahr 2013 und gipfelten zunächst im Guß der 55 Tonnen schweren Vox Patris am 1. August 2017 in den Werkhallen der Gießerei Metalodlew in Krakau, die aufgrund ihrer industriellen Stahlproduktion genügend Kapazitäten zum Schmelzen des Metalls vorweisen konnte.

 

Bis zur fertigen Riesenglocke vergingen mehrere Jahre der Vorplanungen, Berechnungen, Ingenieurleistungen und auch der Rückschläge. Neben der Glockengießerei Jan Felczynski und der Metallgießerei Metalodlew waren insbesondere an den technischen Konstruktionen und Berechnungen für Armaturen und Glockenstuhl die Firma Rduch Bells & Clocks aus Czernica sowie zur wissenschaftlichen Unterstützung Ingenieure der Schlesisch-Technischen Universität in Gliwice beteiligt. Den größten Rückschlag mußten die Beteiligten mit dem ersten Fehlguß der Glocke am 29. November 2016 verbuchen. Der Mantel riss beim Guß leicht ein und Metall trat aus. Mit der Herstellung einer neuen Form wurde am 1. August 2017 der Zweitguß gewagt. Er gelangt zur Zufriedenheit der Beteiligten, so daß die Glocke Vox Patris am 20. September 2018 vollständig fertig gestellt, aber wieder in der Gußgrube stehend der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Wie die Glocke allerdings klanglich geraten ist, wurde der Öffentlichkeit vorenthalten, da auf Wunsch der Auftraggeber die Glocke offiziell erst zu ihrer Weihe in Brasilien erklingen soll. Auch eine direkte Nachfrage nach einer Tonaufnahme an die Gießerei aufgrund wissenschaftlichen Interesses wurde negativ beschieden. Immerhin konnte der Verfasser freundlicherweise weitere technische Einzelheiten rund um den Guß erfahren.[2] So wurden allein für die Aufmauerung des Glockenkerns etwa 9.000 Ziegelsteine verwendet. Für den Guß selbst wurden 60 Tonnen Bronze in vier Öfen geschmolzen um anschließend die gesamte Glockenspeise in einer Pfanne für den Guß zu vereinen. Der reine Gießvorgang wurde mit 12 Minuten angegeben.

Video von der offiziellen Vorstellung der Vox Patris

 

 

Entstanden ist nun eine Glocke mit unglaublichen Ausmaßen. Ihr Durchmesser beträgt 4,5 Meter bei einem Gewicht von 55 Tonnen. Der Schlagton wird von der Gießerei mit FIS 0 (92 Hz) angegeben. Wenn am Anfang ein erster Zeitungsbericht über die größte freischwingende Glocke der Welt zitiert wurde, so muß dies natürlich noch korrigiert werden. Die Glocke selbst wird an einem verkröpften, 10 Tonnen schweren Stahljoch erklingen und damit nicht freischwingend sein. Etwas anderes hätte man aufgrund der Dimensionen der Glocke auch nicht erwarten können. Problematischer für die Klangentfaltung wird es sicherlich bei dem etwa 6 Meter langen und 1954 kg schweren Fallklöppel. Hier hat der Verfasser bisher noch keine klanglich zufriedenstellenden Ergebnisse mit gekröpftem Joch und Fallklöppel aus Polen hören können, ganz im Gegenteil beispielsweise zu Schweizer Projekten.[3] Auch der Klöppel für die Vox Patris, deren Konstruktionszeichnung dem Verfasser vorliegt, lässt hier kein optimales Klangergebnis erwarten, wobei natürlich auch zugute gehalten werden muß, daß bei solchen Glockendimensionen auch noch keinerlei Erfahrungswerte vorliegen.

 

Der Antrieb der Glocke wird über vier Linearmotoren bewältigt, welche die Glocke aufgrund der übrigen Armaturen voraussichtlich mehr zum Kippeln als zum Läuten bringen werden. Gespannt darf man sein auf den Glockenturm. Nach jüngsten Meldungen aus dem April 2019 von einem Besuch polnischer Gießereimitarbeiter in Brasilien wird der Campanile nochmals seine Gestalt ändern, mittlerweile in der 15. überarbeiteten Version.

 

Schmieden des Klöppels Anfang Oktober 2019

 

 

Am Ende muß natürlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit gestellt werden. Kann der Klang einer schwingend geläuteten Glocke dieses Ausmaßes überhaupt noch als Wohlklang empfunden werden oder wird hier nur noch die Tontiefe dieser Glocke beeindrucken und nicht ihr Klangbild selbst? Für läutbare liturgische Glocken macht dieser Gigantismus aus Sicht des Verfassers schon längst keinen Sinn mehr. Für die Untersuchung physikalischer und musikalischer Phänomene lassen sich vielleicht noch aufschlussreiche Erkenntnisse erzielen. Unabhängig davon bleibt aber die Leistung auf dem Gebiet der Gießereitechnik und der Ingenieurwissenschaften anzuerkennen, eine solch schwierige Aufgabe zum Guß dieser Großglocke, besser noch Riesenglocke zu meistern.

 

[1] Vgl. Artikel der Ostsee-Zeitung vom 22. September 2016 unter dem Titel „Fest gemauert in der Erden…“

[2] Für das zur Verfügung stellen von weitergehenden Informationen sei herzlich Herrn Piotr Olszewski von der Glockengießerei Jan Felczynski gedankt.

[3] Als Negativbeispiel seien hier die Klöppel der Großglocken der Basilika der Muttergottes von Licheń in Stary Licheń erwähnt, deren Massenverteilung sich vor allem durch einen ungenügend schweren Ballen als klanglich nicht zufriedenstellend erweisen. Auch der in jüngerer Vergangenheit neu eingesetzte Fallklöppel für die c°-Glocke kann klanglich noch nicht befriedigen, zeigt aber zumindest, daß durchaus Potenzial in der Glocke steckt, welches durch einen geeigneten Klöppel herausgeholt werden könnte. Der vorherige Klöppel der c°, der als „Besenstil“ zu bezeichnen war, konnte hingegen nur metallischen Lärm erzeugen. Alter und neuer Klöppel ist in zahlreichen youtube-Videos zu sehen und zu hören.

Foto: Vox Patris in der Gußgrube. Die Ornamentik der Glocke veranschaulicht die Geschichte und Gegenwart der Wallfahrtsbasilika in Trinidade und zeigt charakteristische Motive der brasilianischen Flora und Fauna. Foto freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Glockengießerei Jan Felczynski.