60-jähriges Provisorium in Sandau hat ein Ende – Glocken sind vom Turm

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Die Kirche von Sandau

In der kleinsten Stadt Sachsen-Anhalts hat sich vor zwei Tagen Großes getan. An der Kirche St. Laurentius/ St. Nikolaus zu Sandau (Elbe) wurde ein über 60-jähriges Glockenprovisorium beendet.
Ursprunglich besaß die Kirche einmal drei Glocken, zwei Läuteglocken und eine Uhrschlagglocke. Die große Glocke wurde im Jahre 1745 vom Magdeburger Gießer Christian See mit einem Gewicht von ca. 2.200 kg gegossen. Sie erklingt mit dem Schlagton des1. Die zweite Glocke wurde im Jahre 1699 von Otto Elers aus Berlin mit einem Schätzgewicht von 1.600 kg mit dem Schlagton es1 gegossen.
Im Jahre 1942 mußte die kleinere Barockglocke sowie die 80 kg schwere Uhrschlagglocke zu Rüstungszwecken an die Schmelzhütte nach Ilsenburg abgegeben werden. Die große Glocke konnte im Turm verbleiben.

Kirchturm Sandau von Westen

Im April 1945 wurde Sandau fast vollständig zerstört, nachdem eine in der Nähe stationierte Einheit der Waffen-SS die Übergabe der Stadt unterbunden und einen amerikanischen Parlamentär erschossen hatte. Der damalige Stadtkommandant befahl die Verteidigung der Stadt bis zum letzten Mann. Am 13. April 1945 begann der zwölftägige Kampf um die Stadt. Die Kirche und vor allem der Kirchturm wurde am 16. April durch Artilleriebeschuß schwer zerstört. Die große Glocke stürzte vom Turm, zersprang aber nicht. Am 25. April 1945 war die Stadt zu 80% zerstört und kapituliierte. Es erfolgte die Besetzung durch US-Truppen.

Die kleinere Läuteglocke entging in Ilsenburg der Einschmelzung und konnte 1947 nach Sandau zurückgeführt werden. Allerdings war der Kirchturm und das Kirchenschiff so stark zerstört, dass an eine Aufhängung nicht zu denken war. Im Jahre 1949 besuchte der Glockengießermeister Franz August Schilling aus Apolda die Kirchengemeinde und schlug die Aufhängung der Glocken in den noch existierenden Außenmauern der Schalluken vor. Dies wurde schließlich realisiert und die beiden Glocken an verkröpften Stahljochen provisorisch wieder aufgehängt, ein Provisorium welches über 60 Jahre lang andauern sollte.

Das zerstörte Kirchenschiff konnte in den 1950er und 1970er Jahren wieder aufgebaut werden. Im Jahre 2002 begann schließlich der etagenweise Wiederaufbau des Turmes, welcher in diesem Jahr bis zur Kirchturmspitze abgeschlossen werden soll.

Die Glocken von Sandau in den Schallöffnungen

Da die Bauaktivitäten nun die ehemalige Glockenstube mit den noch verbliebenen Mauerresten der Schalluken erreicht haben, wurden die beiden Glocken nach 63 Jahren am 10. Juli mit Hilfe eines Baukrans aus ihrem Provisorium befreit. Die kleine Glocke wurde dabei gleich auf der Etage abgestellt. Die große Glocke musste allerdings zu Boden gelassen werden. Sie erwartet eine Restaurierung, da die Glocke einen Sprung aufweist. Zudem fehlt ihr die Krone. Beide Schäden sind vermutlich auf den Sturz aus dem Jahre 1945 zurückzuführen.
Glücklicherweise gibt es noch einige Glocken des Gießers Christian See. So ist beispielsweise in Hundisburg ein dreistimmiges Geläut von Christian See noch vollständig im Original erhalten. Von der dortigen großen Glocke mit dem Schlagton d1 kann eine Abformung der Krone genommen werden, so dass für die große Glocke in Sandau ein originalgetreuer Nachguß erfolgen kann.

Blick vom Kirchturm auf Sandau. Im Hintergrund die Elbe.

Der Förderverein Kirchturm Sandau ist weiterhin auf Spenden angewiesen, damit die Glocken bald wieder über der Stadt erklingen können. Die Kosten für die Restaurierung der großen Glocke, den Bau des Glockenstuhles sowie für die Läutearmaturen und Antriebe belaufen sich schätzungsweise auf 45.000 €.

Im nachstehenden Video des Verfassers hören Sie noch einmal die Glocken von Sandau an ihrer nun vergangenen Aufhängung.

Im nachstehenden Video des Verfassers sehen und hören Sie das Geläut von Hundisburg, welches vollständig von Christian See aus Magdeburg gegossen wurde.